Veränderungsermüdung als Herausforderung für Change Management / die Unternehmensführung
Change Management in Unternehmen ist keine isolierte Disziplin mehr. Es steht im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen und individueller Erfahrungen mit Wandel. Doch was passiert, wenn Menschen nicht mehr die Kraft haben, sich stetig anzupassen? Wir beleuchten das Konzept der Veränderungsermüdung und diskutieren, wie Unternehmen ihr Change Management anpassen müssen, um wirksam und nachhaltig zu bleiben.
In ihrem Buch Triggerpunkte (2023) beschreiben Linus Westhäuser, Steffen Mau und Thomas Lux ein Phänomen, das in der aktuellen Debatte um soziale, wirtschaftliche und politische Transformationen zunehmend an Bedeutung gewinnt: die Veränderungsermüdung.
Ihre Analyse: Gesellschaftliche Gruppen sind durch die Vielzahl und Geschwindigkeit von Transformationen zunehmend erschöpft. Sie erleben die permanente Infragestellung bisheriger Normen, Werte und Strukturen nicht mehr als Entwicklung, sondern als kräfteraubende Zumutung. Das betrifft nicht nur Debatten um Geschlechterrollen oder Diversität, sondern auch tiefere Fragen sozialer Sicherheiten, wirtschaftlicher Stabilität und technologischer Umbrüche.
Dieser Mechanismus greift auf mehreren Ebenen: Wer sich in seinem Alltag ständig neuen Realitäten anpassen muss, wer erleben muss, dass etablierte Selbstverständlichkeiten verschwinden, reagiert teils mit Widerstand oder Resignation. Diese gesellschaftliche Veränderungsermüdung spiegelt sich in Polarisierungen, Reformmüdigkeit und zunehmender Skepsis gegenüber "denen da oben" wider.
Dieses Phänomen betrifft auch Change-Prozesse in Unternehmen, denn die Firmen sind kein isolierter Raum. Die Menschen, die Change-Projekte umsetzen und unterstützen sollen, sind dieselben, die außerhalb der Organisation bereits durch ständigen Wandel herausgefordert sind. Das bedeutet: Wer in seinem privaten Umfeld schon müde von Veränderungen ist, wer im politischen und gesellschaftlichen Kontext bereits das Gefühl hat, mit Umbrüchen nicht mehr Schritt halten zu können, wird innerhalb der Organisation nicht plötzlich zum enthusiastischen Change-Agent.
Und doch ist das derzeitige Framing von Change Management genau darauf ausgelegt: Veränderung als etwas „Neues“, als „Disruption“ die Kraft kostet, Widerstände erzeugt und durch "gutes Management" überwunden werden muss. Was aber, wenn der Widerstand weniger eine bewusste Ablehnung als vielmehr eine schlichte Erschöpfung ist? Wenn Menschen nicht gegen Change sind, sondern schlicht nicht mehr die Kapazität haben, sich aktiv einzubringen?
Wenn Veränderungsermüdung eine reale Herausforderung ist, muss Change Management darauf reagieren. Und wir wollen ausdrücklich betonen: Es geht uns nicht um einen bloße Umetikettierung des Bestehenden! Es geht um eine veränderte Haltung zu und Aufhängung von Change. Und um eine Prozessgestaltung die automatisch dazu führt, dass der viel thematisierte "Umgang mit Widerständen" gar nicht Thema werden kann, weil es ihn nicht gibt. (Lesen Sie dazu auch unseren Blogartikel "Umgang mit Widerstand")
Drei zentrale Anpassungen könnten sein:
Diese veränderte Herangehensweise an Change Management könnte sich auch auf die Unternehmenskultur auswirken. Anstatt eine Kultur der ständigen Agilität und "Veränderungsbereitschaft" zu propagieren, wäre es zielführend, ein Umfeld zu schaffen, in dem Stabilität und Wandel kein Widerspruch sind.
Unternehmen könnten neue Formen des "Entwicklungs-Dialogs" etablieren, in denen Mitarbeitende nicht nur informiert und beteiligt, sondern in ihrer individuellen Veränderungsresilienz unterstützt werden. Also „Rückenschule“ statt „Selbstoptimierung in der Mucki-Bude“.
Change darf nicht nur als rein methodisches Phänomen gedacht werden, das „effizient gemanagt“ werden muss, sondern als ein Prozess, der sich in den übergeordneten Wandel von Gesellschaft und Arbeitswelt integriert. Und die Menschen in gleichem Maße berücksichtigt wie die wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Wer Change Management zukunftsfähig gestalten will, muss Change in Unternehmen und Change in der Gesellschaft zusammen denken. Denn in Zukunft werden sich die Unternehmen und Behörden in Deutschland noch auf sehr viel stärkere Anforderungen durch tiefenwirksame Veränderungen einstellen müssen. Und es scheint außerordentlich wichtig zu sein, auch jede Form von Erholungsphase zu nutzen, um die Veränderungsbereitschaft und -fähigkeit unserer Mitarbeitenden zu erhalten.
Call4Action:
Diese ersten Gedanken setzen den Rahmen für eine Diskussion, die aus unserer Sicht dringend geführt werden muss. Wir freuen uns über Anregungen, Perspektiven und Beispiele, wie Unternehmen heute bereits mit Veränderungsermüdung umgehen!